Ich und die Stadt, die sterben sollte
Kindertagebuch über das letzte Kriegsjahr 1944 – 45 in Dresden

Leseprobe
VORWORT
Mögt ihr Wolken? Ich mochte Wolken eigentlich auch nicht besonders. Doch Wolken haben mein Leben gerettet. Viele lange Jahre wusste ich das gar nicht. Aber eines Tages, als ich selbst schon zwei Töchter hatte, kam meine jüngere Tochter Mirjam aufgeregt aus der Schule und fragte mich: „Wo warst du am 13. Februar 1945 mittags?“ Ich antwortete: „Ich war in der Schule. Wir hatten an diesem Tag ab mittags Schule.“ „Und wo stand deine Schule?“ wollte Mirjam wissen. „In der Nähe des Pirnaischen Platzes, am Georgplatz“, sagte ich. Mirjam sah mich lange an und sagte dann: „Eigentlich müsstest du tot sein!“ Und Mirjam erzählte, dass der Luftangriff auf Dresden für den Mittag des 13. Februar 1945 geplant war. Die amerikanischen Bomberverbände sollten um 9 Uhr vormittags von Flugplätzen in England aus hochsteigen und um 12 Uhr mittags beginnen, ihre Bomben auf unsere Stadt Dresden abzuwerfen. Doch am Morgen dieses 13. Februar 1945 lag eine so dicke Wolkendecke über Mitteleuropa, dass der Bombenangriff auf den Abend verschoben wurde. Der englische Wetterdienst hatte vorausgesagt, am Abend werde der Himmel über Dresden für einige Stunden wolkenlos sein. Deshalb starteten die Bomber in England erst gegen 17 Uhr 30 Minuten abends, und nicht 9 Uhr morgens. Und deshalb lebe ich. Wegen der Wolkendecke. „Wenn du nun als Kind gestorben wärst“, fragte Mirjam, „wo wäre dann ich?“
FEBRUAR 1945

Nach dem Luftangriff auf Dresden im Oktober 1944 haben wir
Schülerinnen der Clara Schumann-Schule Erkennungsmarken bekommen. Das sind
ovale Anhänger aus Metall mit einer Nummer darauf. In einer Brusttasche aus
Leder müssen wir sie um den Hals tragen. Falls wir verschüttet werden oder
verbrennen. Damit man dann weiß, wer wir waren. Unsere Clara Schumann-Schule
auf der Marschnerstraße ist Lazarett geworden, ein Krankenhaus für Soldaten.
Wir gehen jetzt in der Innenstadt in eine Schule und haben oft erst am
Nachmittag Unterricht. Es ist ein bisschen gruslig und auch ein bisschen schön,
danach im Dunkel durch die Stadt zu laufen. An allen Fenstern der Häuser sind
die schwarzen Rollos heruntergezogen, so dass kein Lichtschein auf die Straßen
fällt. Auch die Scheiben der Gaslaternen sind bis auf einen kleinen Rand unten
schwarz zugestrichen. Dieser Rand leuchtet grün. Auf dem Fußweg hat die Laterne
dann einen runden grünen Schein. Der sieht aber hübsch aus. Wie ein Mond, der
vom Himmel gefallen ist. Und da sind auch noch viele kleine Monde, die im
Dunkel herumzittern. Die Leute haben die Zittermonde anstecken. Es sind grüne
Leuchtplaketten. Die müssen wir an Mänteln oder Jacken haben, damit wir im
Dunkel nicht zusammenrennen. An der Straßenbahnhaltestelle zittern immer
besonders viele kleine grüne Monde. Sie sehen aus, als schwebten sie hin und
her. So stelle ich mir Irrlichter vor. Ich mag die Irrlichter und wie sie
schweben. Nicht mag ich, wenn es draußen finster ist und wir in der Schule
sitzen und die Sirenen heulen. Dann brennt in den Gängen nur ein Notlicht, und
es gibt Gedränge und Geschubse auf den Treppen hinunter zum Luftschutzkeller.
Fast jeden Tag und jede Nacht haben wir jetzt in Dresden Fliegeralarm.
Abends, vor dem Einschlafen, zaubere ich gern. Ich zaubere einen Traum: Ich
komme aus der Schule, ich steige aus der Straßenbahn und sehe: Flugzeuge haben
Bomben abgeworfen auf das Haus, in dem ich wohne. Unser Haus brennt. Ich renne
die Treppe hinunter in den Luftschutzkeller und rette Großmama und alle
Hausbewohner! Danach sause ich die Treppe hinauf zu unserer Wohnung und rette
so viel, wie ich tragen kann. Wo soll ich es aber hinlegen? Ich beginne meinen
Traum von vorn.
Nachts wache ich auf. Ich wache jetzt oft mitten in der Nacht auf. Obwohl alles
still ist, fühle ich sie schon, die Sirene. Gleich wird sie kommen, gleich! Ein
schauerliches Geheul! Wir springen aus den Betten, ziehen Schuhe und Mäntel
über und greifen nach den Taschen, die neben der Tür bereit stehen. Im Haus
wird der Gong geschlagen. Wir eilen zum Luftschutzkeller. Draußen dröhnt es wie
von tausend Motoren. Ich gehe mit Mutti und unserem Luftschutzwart zur hinteren
Kellertür. Es dröhnt immer lauter. Und auf einmal sinken vom schwarzen Himmel
unzählige leuchtende Christbäume. Der Himmel wird heller und heller. Nie habe
ich etwas Schöneres gesehen! Mein Spielplatz im silbernen Licht! Ich möchte
schauen und schauen. Doch ein entsetzliches Krachen beginnt. Ich werde
fortgerissen in den Luftschutzkeller. Das elektrische Licht verlöscht. Die
Wände wackeln. Die Erwachsenen zerren sich Gasmasken über die Köpfe und hucken
ihre Rucksäcke auf. Wie grässliche Rüsseltiere sehen sie aus! Wir sitzen. Die
Bomben krachen.
Dann wird es ruhiger draußen. Eine Sirene gibt Entwarnung. Wir kriechen aus dem
Keller. Über die Dächer fegt der Sturm. Am Himmel glüht ein roter Feuerball.
Rauchwolken quellen über den Flammen empor. Die Wohnungen werden nach
Blindgängern abgesucht. Danach laufe ich in jedes Zimmer. Ich begrüße und
streichle Tisch und Stühle, das Sofa, den Schrank, mein Bett, die Bilder an den
Wänden. Mir ist, als hätte ich das alles ganz neu geschenkt bekommen. In
Gedanken nehme ich jede Nacht Abschied von allem. Drei Stunden später heulen
wieder die Sirenen. Auch nach diesem Bombenangriff stehen die Menschen auf dem
Hof. Der Feuersturm peitscht Funken an unsere Häuserwände. Rauchwolken wachsen
zu schwarzen Bergen über dem roten Himmel. Dazwischen zucken helle und orangene
Flammen. Immer noch kracht es fürchterlich. Alle sind aufgeregt. Ich auch. So
ein komisches Zittern in mir will gar nicht aufhören. Es muss die Hölle los
sein in der Stadt! sagen die Leute und erzählen von Verwandten und Freunden, um
die sie sich sorgen. Doch niemand geht los, um sie zu retten.
„Sei froh, dass du noch lebst. Dort kann jetzt keiner hinein!“ antwortet Mutti,
als ich ihr meine Gedanken sage. Die Menschen verbrennen in der Stadt. Das
Feuer ist mächtiger als die Menschen, es frisst Häuser und Menschen auf. Und
Träume. Nie mehr kann ich träumen, ich rette Großmama und die Hausbewohner. Man
kann niemanden retten. Keiner kann dort hinein. Drei Tage und drei Nächte
brennt die Stadt. Drei Nächte ist der Himmel rot, und Zeitzünder explodieren.
Dann wird es still, totenstill. Ist unsere Stadt nun gestorben? Am dritten Tag
nach dem Bombenangriff versucht Mutti, mit dem Fahrrad in ihren Betrieb, das
Kühlhaus Dresden, zu gelangen. Spät am Abend kommt sie wieder. Sie erzählt:
„Die Stadt Dresden ist ein einziger kilometerlanger, rauchender Trümmerberg.
Von der Liebstädter Straße an steht kaum noch ein Haus. In der Grunaer Straße
liegen die Schuttmassen meterhoch. Am schaurigsten sah es auf dem Zöllner Platz
aus. Jedes Haus ausgebrannt, und auf dem Platz lagen die Toten, so wie der
Feuersturm sie hingeschleudert hatte. Und immer wieder Menschen, die über die
rauchenden Trümmerberge kriechen und nach ihren Angehörigen suchen.“ Muttis
Arbeitskollege hatte sich auch mit seinem Fahrrad zum Betrieb durchgekämpft.
Bei ihm wohnt seit gestern ein kleiner Junge. Das kam so: In der brennenden
Stadt Dresden lief ein Soldat umher. Er hatte einen Tag Urlaub bekommen, um
nach seiner Frau zu suchen. Mit Mühe fand der Soldat das Haus
wieder, wo sie gewohnt hatten. Mit den Händen räumte er die Steinbrocken vom
Kellereingang fort. Dann stieg er in den Keller. Dort sah er: Alle im
Luftschutzkeller waren tot. Auch seine Frau. Er konnte den Menschen nicht mehr
helfen. Er wollte schon wieder gehen. Da sah er eine Kinderhand, die sich
bewegte. Der Soldat hob das Kind hoch. Es war ein Junge. Und er war lebendig.
Er schlief. Der Soldat kannte den Jungen nicht. Er gehörte niemandem im Haus.
Der Junge wachte auf. Er legte seine Arme um den Hals des Soldaten und sagte:
„Papa!“ Der Soldat nahm den Jungen mit. Er lief aus der brennenden Stadt, lief
so weit, bis er Häuser fand. Er musste sich beeilen, denn er hatte nur bis zum
Morgen Urlaub. Er klopfte an viele Türen. Niemand öffnete, es war ja Nacht. Es
dämmerte schon, als der Soldat an das Haus kam, in dem Muttis Kollege und eine
Pfarrersfamilie wohnen. Sie nahmen dem Soldaten den schlafenden Jungen ab. Die
Pfarrersfrau schmierte eine Stulle für den Soldaten. Der sagte: „Ich weiß
nichts über das Kind. Wenn der Krieg zu Ende ist, und ich lebe noch, dann komme
ich und hole mir den Jungen! Ich habe niemanden mehr.“ Das ist eine so schöne
Geschichte, dass ich sie gleich aufgeschrieben habe. Mitten unter den vielen,
vielen Toten in Dresden ein kleiner Junge, der lebt und der gerettet wurde!
P.S. im Jahr 2005: Das Kühlhaus Dresden übernahm die Patenschaft für den Jungen. Mir unbekannt ist, ob er (Name möglicherweise Andreas) von seiner Rettung durch den Soldaten weiß.
Presse
DAS IST, ALS OB DIE SONNE BLASS WIRD UND ALLES WIRD FERN UND FREMD
Fast immer werden in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs die leisen Stimmen der Kinder übertönt. In den Abhandlungen der Historiker wird man sie vergebens suchen. Und doch teilt sich aus Freuden und Ängsten, Hoffnungen und Enttäuschungen, aus Sehnsüchten und Träumen von Kindern vieles mit, was uns Alltagsgeschichte über Daten und Fakten näher bringen kann. Aini Teufels Kindertagebuch „Ich und die Stadt, die sterben sollte“, aus dem wir im folgenden einige Passagen veröffentlichen, beginnt im August 1944 und endet Weihnachten 1945. Als sie mit 15 Jahren ihre erste Schreibmaschine bekam, hat sie das Kindertagebuch 1944/45 durchgesehen und abgetippt. 1994 erhielt sie von der Stiftung Kulturfonds ein Stipendium und damit die materielle Rückendeckung, dieses Buch erneut zu bearbeiten und zu ergänzen. Die Namen der Personen wurden geändert – Authentizität kindlicher Empfindungen blieb erhalten und teilt sich unverstellt mit.
Beitrag von Gerlinde Adam
EIN HAUCH VON GEBORGENHEIT ZWISCHEN DEN RUINEN
Die Kriegsjahre 1944/45 in Dresden, die Bombennacht am 13. Februar – wie hat ein Kind diese schlimmen Ereignisse empfunden? Mit elf Jahren schrieb Aini Teufel, die heute als freischaffende Schriftstellerin und Grafikerin in Dresden lebt, ihre Eindrücke damals auf. Die Geschichten ergeben ein nachvollziehbares und berührendes Bild jener Zeit: der unruhige Schlaf aus Angst vor Fliegeralarm, die verängstigten Menschen im Lustschutzkeller, aber auch das kleine Mädchen, das sich ein Stück Normalität retten will, die Puppen statt des Schulranzens mit in den Keller nimmt. Aini Teufel wird gerade jetzt, im Vorfeld des 60. Jahrestages der Zerstörung Dresdens, oft gebeten, aus ihrem Kindertagebuch „Ich und die Stadt, die sterben sollte“, zu lesen. „Die Zuhörer sind dann immer erstaunt und vielleicht auch ein bisschen erschrocken, dass ich die Ruinen geliebt habe. Doch sie waren für mich das Zeichen, dass der Krieg vorbei war. Dadurch vermittelten sie etwas wie Geborgenheit.“ Aini Teufel zeichnete viele Ruinen – im Sonnenschein, bei Mondlicht, bewachsen mit Blumen und Gras.
Beitrag von Monika Dänhardt
DAMIT SICH ERINNERN ENTFALTEN KANN - ANTWORTEN DER KÜNSTE
Ob der Angriff vor oder nach Mitternacht stattgefunden hat, will die Elfjährige wissen. Nach wäre ihr am liebsten, denn dann würde die Schule eine Stunde später beginnen. Kurz darauf macht das zweite Bombardement solche Erwägungen überflüssig ... So hielt es die Dresdner Malerin Aini Teufel in ihrem Kindertagebuch fest. Antworten der Künste auf die Zerstörung Dresdens verspricht ein Band, der am Mittwoch in Dresden vorgestellt wurde. Tatsächlich enthält er neben Romanauszügen, Gedichten, Essays sowie Gemälden, Zeichnungen und Fotografien auch monografische Texte, vor allem zahlreiche Erlebnisberichte. Entstanden ist ein Lesebuch über die Bombennacht von Dresden ... Die Zusammenschau unterschiedlicher Erfahrungen, Perspektiven und, soweit durch das Medium Buch vermittelbar, Genres ist reizvoll und erhellend und, wo etwas weniger Gelehrtheit vielleicht mehr gewesen wäre, zumindest als Experiment aufschlussreich. Doch sind es zuletzt die ohne jedes Kalkül vorgetragenen Erlebnisse Betroffener, die einem am längsten nachgehen. So, wenn das Kind, von dem eingangs die Rede war, bei der Rückkehr in die Wohnung stets das Mobilar zu streicheln pflegt: Tisch, Stühle, Sofa ...
Beitrag von Dr. Wolfgang David
ALTIJD KLAAR VOOR SPURT NAAR SCHUILKELDER
„Morgen zal het vrede zijn“, riep ze uit. En ze wilde meteen de straat oprennen, haar moeder, die van haar werk in de koelfabriek moest komen, tegemoet. Maar oma, bij wie zij en haar moeder inwoonden, hield haar tegen. Want de capitulatie was immers nog niet getekend. Overal dreigde nog gevaar. De nu 71-jarige Aini Teufel herinnert het zich nog goed. Het was een mooie, zonnige voorjaarsdag, die zevende mei 1945. De bewoners van de Dresdense flat, waarin ze woonde, zaten aan die ene radio geekluisterd. De Engelse zender had al eerder aangekondigd dat de Duitsers zich zouden overgeven. En nu zei ook deze Duitse stem dat dit de volgende dag officieel ging gebeuren. Elf jaar was Aini toen. Ze had de afgelopen jaren geleerd dat alles elk moment weg kon zijn. Haar stad, haar hus, haar oma, haar moeder, en ja, zelfs haar eigen leven. „Ik groeide op met de oorlog, ik wist niet beter.“ Op school droegen alle kinderen – net als soldaten – een metalen plaatje om de hals met daarop persoonlijke gegevens. Dit zou identificatie na een eventueel bombardement vergemakkelijken … Aini tekende en schreef alles op watr haar hoofd zat De ruinnes joegen haar geen angst aan. „ Ik hield van ze, ze stonden voor mij symbool voor een wereld zonder oorlog.“ Die ze had overleefd, net als teddybeer Fifi.
Beitrag von Wietske Koen (in holländischer Sprache)