Traum und Wirklichkeit
Ein Felskletter-Tagebuch - Unterwegs mit Bernd Arnold und seiner Klettergruppe
 Als ich 1987 einen Holzschnitt-Auftrag zum
Thema BERGSTEIGEN IN DER SÄCHSISCHEN SCHWEIZ bekam, bat ich um die Adresse des
Hohnsteiner Extrembergsteigers Bernd Arnold und wurde in die große Familie der
Kletterer aufgenommen als wahlverwandt im kühnen - oder törichten -
Unterfangen, Menschen Angebote zu machen, wie Leben sein könnte. Ein Jahr lang
war ich mit Bernd Arnold und seiner Klettergruppe in den Bergen der Sächsischen
Schweiz unterwegs. Befanden sich die Kletterer am Felsen, zeichnete,
fotografierte oder schrieb ich. Rasch fanden wir Gemeinsamkeiten zwischen Leben
für die Kunst und Leben für den Klettersport, bedeutete ja beides: Leben für
eine Idee. In jenem Jahr entstand mein Tagebuch-Manuskript TRAUM UND
WIRKLICHKEIT. Dieser Titel ist zugleich Name eines Kletterweges, den Bernd
Arnold als Erst-Besteiger begangen hatte und dem er aus diesem Grunde einen
Namen geben durfte.
Leseprobe
TRAUM UND WIRKLICHKEIT - EIN FELSKLETTER-TAGEBUCH
Unterwegs mit Bernd Arnold
und seiner Klettergruppe in der Sächsischen Schweiz
1987
VORWORT
Traum und Wirklichkeit werden zuweilen eins. Man denkt sich etwas aus, und das
gibt es dann. Ein Komponist erfindet Klänge, ein Maler ein Bild, ein
Schriftsteller Menschen und lässt sie handeln. Bilder, Bücher, Melodien leben
mit uns und wir mit ihnen. Der Kletterer erfindet einen Weg auf Gestein. Auch
da ist zuerst der Traum. Der zu leben gezwungen wird, indem der Träumende sich
selbst bezwingt. Doch genügt es, um einen Traum ins Leben zu holen, dass einer
sich bezwingt? Sind nicht viele beteiligt auf verschiedene Weise? Jene, die den
Kletterer sichern am Fels? Und jene - die Familie -, die ihn sichern im Leben?
Aber welches Recht hat eigentlich der so aktiv Träumende, das Leben anderer zu
brauchen, zu verbrauchen für seinen Traum? Wie schwer ist es, sich einem
fremden Traum unterzuordnen? Wo bleibt dann der eigene? Wird er nie geboren?
Gelingt es, den fremden Traum zum eigenen zu machen, oder ist das unmöglich?
Möglichkeiten, Unmöglichkeiten, Wirklichkeit und Traum. Beim Kind noch eine
Einheit. Irgendwann aber ziehen Erwachsen-Werdende eine Grenze zwischen
Möglichem und Unmöglichem und leben sie. Sind sie die Klügeren, Glücklicheren,
oder vielleicht jene, die eine Einheit von Traum und Wirklichkeit versuchen?
WARUM KLETTERST DU? - März 1987

Hier ist Bernd Arnold. Eine Stimme, weich, sehr leise. Ich fahre mit dem
Fahrstuhl nach unten, will eben zum Vorhaus, da kommen zwei Männer, nicht sehr
groß. Ein Dunkelblonder mit schmalem Gesicht. Der andere windet sich eben am
Geländer herab. Ich erkenne ihn sofort, den weltweit bewunderten Felskletterer
aus Hohnstein. Sie kommen mir nach ins Atelier, haben die Jacken noch an,
stehen. Auf Wäschetrocknern hängen Holzschnitte, die ich vor einigen Tagen in
einer Drucktechnik des Mittelalters - mit der Hand und einem Falzbein - druckte
und die noch immer nass sind, so dass ich sie nicht abnehmen und übereinander
legen kann. „Es riecht gut nach Farbe, das gefällt mir!“ meint Bernd. Er und
sein Freund Mucky ziehen die Jacken aus und hocken sich vor meine Arbeiten, die
auf dem Fußboden des Ateliers ausgebreitet liegen - Farblinolschnitte mit
Motiven aus dem alpinen Bergsteigen. Ich koche unterdessen Kaffee, decke dann
den kleinen runden Tisch. Bernd schaut zu mir hoch, sagt: „Ich bin mächtig
begeistert! Bist du auch schon gestiegen?“ „Zweien, eine drei, nichts gegen
euch!“ Es sei unwesentlich, welchen Schwierigkeitsgrad einer klettere, erklärt
mir Bernd, man klettere nicht gegen den Felsen, sondern gegen sich selbst. Sie
schrieben sich in kein Gipfelbuch ein, Zahlen wären für sie kein Klettermotiv.
„Und warum kletterst du?“ frage ich Bernd. „Ich will mich mitteilen!“
„Mitteilen?“ Mucky, der Dunkelblonde, möchte mir wohl erklären, was Bernd
meint, doch der unterbricht ihn: „Sie wird das alles selbst erkennen, wenn sie
mit uns geht! Wir haben etwas vor mit Dir, wenn Du einverstanden bist!“ Seltsam
sein Gesicht, wenn er aufschaut, ohne zu lächeln. Ich sage: „Wie du dich gibst,
so offen, - ich glaube, du bist sehr gefährdet.“ Bernd schweigt eine Weile,
sagt dann: „Wenn ich mich nicht öffne, bin ich noch gefährdeter.“ Er erhebt
sich, hockt sich wieder vor ein Blatt. EISSONNE habe ich es genannt. Er sagt:
„Das brauche ich! Das ist das schönste!“
DER DREIKÖPFIGE HÖLLENHUND - April 1987
 Parkplatz bei der Bastei. Bernd und Mucky
nehmen kleine Teppiche aus ihren Autos und kleiden sich darauf um. Zu dritt
trinken wir eine Flasche Bier. Sie hucken riesige Rucksäcke auf, Bernd stülpt
sich einen grauen Filzhut über die Locken. Durch den Wald laufen wir zu einem
Plateau. Felsen ringsum. Wir setzen uns. Noch ohne Grün die Landschaft, sie
liegt im Dunst. Während wir schauen, wird es licht. Sonne nun über Feldern und
Gestein. Bernd zeigt hinab in eine Schlucht: „Dort steigen wir nach unten!“
Helle und dunkle Schatten auf Sonnenwänden. Über uns hinaus wachsen sie in den
bläulichen Himmel. Bernd weist auf einen Felsen im Gegenlicht: „Das ist die
Eule! Die nehmen wir zuerst! Es ist mein Weg!“ Seile, verschiedenfarbige, auf
dem Nadelboden, Karabinerhaken, Kletterschuhe, Schlingen. Bernd sagt, er habe
früher zu allen Wegen, die seine Wege wären, eine sehr enge Beziehung gehabt.
Alle Berge hätten ihm gehört, früher. „Vielleicht ist das wie mit Bildern“,
sage ich. „Sie gehören einem nur ganz eng, während man sie malt.“ Bernd steigt,
von Mucky gesichert. Mühelos läuft er den Fels hinan bis hoch. Dann geht Mucky
nach, rasch und gewandt. Sie unterhalten sich wie bei einem Spaziergang und
lachen. Bernd kommt wieder herab, er stößt sich vom Felsen ab, schwebt.
Meterweit ist er entfernt vom Gestein, er schaukelt und wiegt sich. Nun Mucky,
bei ihm das gleiche spielerische Tummeln in der Luft. Wie Delphine im Wasser
schwimmen sie vor dem Blau des Himmels, schwarze Silhouetten beide. Das
Zueinander ihrer Bewegungen erinnert an Tanz. Vor uns nun eine ockerfarbene,
unten beschattete, oben besonnte Wand. „Siehst du, wie schön sie ist?“ fragt
mich Bernd. Und wieder erscheint alles mühelos. Bernd sucht mit Händen und
Füßen, schiebt oder zieht sich in die Höhe. Ohne zu rasten steigt er, legt
Karabinerhaken und Schlingen und hängt sich ein. Verweilt zuweilen eine
Winzigkeit länger an einer Stelle und zieht plötzlich in mehreren Zügen ein
großes Stück hinan. Höher und höher tastet er sich. „Ich freue mich! Ich freue
mich!“ Bernd ruft es von oben. Unterwegs, so fügt er hinzu, habe er ein paar
mal gedacht, seine Kraft sei zuende. Bernd, im Ring hängend, die Arme vor der
Brust verschränkt, ein Bein gestreckt am Felsen, das andere baumelt. Mucky
steigt nun, löst Schlingen aus Karibenerhaken und Haken aus Ringen, steigt. Bei
ihm erkenne ich, was die Wand den Jungen abverlangt. Bernd, wieder
herabschwebend, tänzelt zur Seite und schaut sich etwas an, stößt sich ab vom
Felsen und schwingt tiefer, singt dabei und pfeift. Ist er nicht einer der
Menschen Chagalls? Fliegen, Tanzen in der Luft - dieser uralte Traum der
Menschheit -, die Jungen holen ihn sich. Laufen im Wald. Um uns zwitschern die
Vögel. Fast leer der Parkplatz. „Hast du einen Tisch für uns bestellt?“ fragt
Mucky. „Nein“, antwortet Bernd. „Schade. Wir hätten uns einen mit einer Kerze
reservieren lassen können.“ Wir stoßen zusammen an. Bernd blickt versonnen. Er
bestellt für uns beide noch einen Schoppen Wein. Ich glühe, während ich auf dem
Tisch der Gaststätte kleinere Arbeiten ausbreite, die mitzubringen mich die
Jungen gebeten hatten. Dunkel. Die Basteibrüstung. Verloren leuchtet der Mond.
Schwarze Bäume um uns. Unten irrende Lichter. Die Elbe, ein dunkelschimmerndes
Band.
AM SPRUNGHORN - August 1987
 Ich erwache vom Läuten der
Kirchenglocken. Sonnig-hell ist es im Zimmer, und es duftet nach Kaffee. Am
Frühstückstisch Bernds Familie und Gerhard. Er hat, wie oft, im Wald in seinem
Auto, einem Trabant-Kombi, übernachtet. Bernds Frau bäckt Brötchen auf.
Schinken und Wurst liegen da, Käse, Marmelade und Kuchen. Vor der Haustür,
wartend auf Motorrädern, zwei junge Bergsteiger. Sie steigen dann zu Bernd und
mir ins Auto. Bernd fährt. Um uns der Wald flimmert. Aber gebe es nicht
grautrübe Tage wie gestern, fühlte man sich dann so befreit? Wie Silber das
Licht auf den Blättern, tiefschwarz die Stämme der Bäume! An den Felsen sind
schon viele Kletterer. Ich laufe Bernd hinterher. Der Fotoapparat, der um
meinen Hals hängt, schlägt zuweilen an den Steinen an, wenn ich mich hochziehe.
Bernd legt den Klettergürtel an und hakt die Karabiner ein. Ich hole ich mein
Skizzenbuch aus dem Rucksack und laufe ein Stück einen Pfad entlang. Nass,
mürbe der Waldboden. Pilze, schimmelüberzogen. Ich zeichne Form-Ordnungen, die
sich als Landschaften verkleiden. Fange an irgendwo im Detail und versuche, vom
Detail zur großen Form zu gelangen. Da sehe ich, Bernd steigt eben eine lineare
Rinne hoch. Er ruft mich: Eine Schlinge sei ihm heruntergefallen, ob ich sie
ins Seil binden könne? In einer kleinen Tanne finde ich sie und befestige sie
am herabhängenden Seil. Bernd zerrt sie hoch. Ich bange, dass sie auch gut oben
ankommt. Warum habe ich nie darauf geachtet, wie man eine Schlinge ins Seil
bindet? Wenig unterm Plateau hat Bernd sich eingehängt. Nun klettert er aus der
Schattenwand ins Licht. Um seinen Kopf ein heller Schein, dann auch auf seinen
Schultern. Was für ein Bild! Die monumentale Schattenwand, und oben umreißt ein
Sonnenstreif die winzige menschliche Gestalt, als wolle sie diese aus dem
Irdischen lösen! Merkwürdig, auch so fern, hat Bernds Gestalt etwas
Anrührendes. Ein ungewöhnlicher Junge, vereint in sich das Leise, Weiche, doch
auch extremste Härte, vor allem gegen sich selbst. Sein Tasten auf dem Gestein
hat immer etwas Tänzerisches. Er neigt sich dem Felsen zu, achtend dessen
Übermacht, schmiegt sich an, wirbt um ihn. Wird ihn der Fels erhören?
Hoffentlich. Ich möchte nie erleben, dass er stürzt. Bernd, brennend von Licht,
nun auf dem Plateau angekommen, leuchtet wie eine Fackel. Stille um mich.
Mittag ist längst vorbei. Blau verschleiert die Felswände hinter mir.
Vogelgesang. Ich zeichne. Später Nachmittag dann. Bernd seilt sich ab, schwebt
tiefer, kreiselt in der Luft. Hängend im Blättergewirr einer Birke, sagt er
staunend: „So ein Tag! War er auch schön für dich?“
Presse
AINI TEUFEL – KÜNSTLERIN UND CHRONISTIN
Auf graphischem Gebiet bevorzugte die Künstlerin seit Beginn ihrer
freischaffenden Tätigkeit die Technik des Holzschnitts. Der Vorteil dieser
Technik ist, wie sie es einmal formulierte, neben der Freude, „in Holz zu
schneiden, dass man die Schnitte selbst mit Hand und Falzbein drucken kann“. In
den Jahren 1987-1988 entstanden Aini Teufels Holzschnitt-Blattfolgen
BERGSTEIGEN IN DER SÄCHSISCHEN SCHWEIZ.
SÜDHANG – DRESDNER STADTTEILJOURMNAL – April 1989
Beitrag von Dr. Elvira Zöllner
TRAUM UND WIRKLICHKEIT PORTRÄT: AINI TEUFEL
Manch einer wird ihre Arbeiten kennen, ohne sie mit dem Namen der Künstlerin zu
verbinden. Katzen, Hunde, Löwen – Märchenfiguren, die im Kindergarten hingen,
oder Figuren, die Sie in einem Malbuch selbst ausmalten. Zum TAG DES OFFENEN
ATELIERS besuchte ich ihre Atelierwohnung. Was wir dort zu sehen bekamen,
erfreute das Herz eines jeden Wanderers: Berge und Berglandschaften in
kräftiger Farbigkeit, in verhaltener Kühle, in strengem grafischen
schwarz-weiß. Und Tagebücher. Die früh geübte Tugend des Tagebuches hat sich
Aini Teufel bis heute erhalten. Das setzt nicht nur gutes Beobachten voraus,
sondern auch Abstrahieren, Verallgemeinern. So ergänzt sich beides: das
bildnerische wie das schriftliche Werk. In glückhaften Zeiten wird die
Farbigkeit ihrer Bilder lichter, heiterer, aber auch philosophischer. Die
Blätter „Kaukasus-Expedition“ entstehen in der Zeit des Mitwirkens am
Wiederaufbau der Semperoper. Schön der Kontrast der kleinen Menschen zu den
großen Bergen. Der Wille, den Kleinmut zu besiegen und das Große zu leisten,
wird augenfällig. Aber auch die Gefahr. Eine Eisspalte öffnet sich wie ein
Blütenkelch. Das Auge wandert hinauf zum Gipfel, doch die Dimension der Gefahr,
der Abgrund, ist nicht zu übersehen. Traum und Wirklichkeit liegen unlösbar
nebeneinander. „Berge, sie gehören zu jener Welt, die mich, meine Grenzen
provoziert“, schreibt sie selbst, und: „Berge malen, ist es nicht wie Berge
besteigen?“ Sie erlebte hautnah: Leben für die Kunst und Leben für den Sport
hat etwas Gemeinsames: es ist Leben für eine Idee. Wie Bernd Arnold einen
schwierigen Kletterweg „Traum und Wirklichkeit“ benannte, gab sie ihrem
Klettertagebuch auch diesen Titel.
DIE FÄHRE – März 2000
Beitrag von Dr. Manfred Scholze
EIN MULTITALENT IN SACHEN KÜNSTLERISCHER AUSDRUCK
„Es macht mir einfach Spaß, mich auf verschiedene Weise auszudrücken“, sagt
Aini Teufel. Die Interessen der Dresdnerin sind weit gefächert. Ein Mal spricht
sie in Bildern und dann wieder mit Hilfe der Literatur. Aini Teufel ist
Grafikerin, Malerin, Schriftstellerin und Chronistin zugleich. Einige ihrer
zahlreichen Werke werden zum 5. Hohnsteiner Klettersportfest vom 8. bis 10.
September in der Stadtbibliothek in Hohnstein zu sehen sein. Ein Jahr lang
begleitete die Künstlerin den Hohnsteiner Extrembergsteiger Bernd Arnold und
seine Gruppe bei Klettertouren.
SÄCHSISCHE ZEITUNG (Sebnitz) – 2. / 3. September 2000
Beitrag von Mandy Klinger
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